Kein Verlust der Arbeitnehmereigenschaft wegen Schwangerschaft

Arbeitsrecht

Eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitssuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, kann die „Arbeitnehmereigenschaft“ behalten. Hierfür ist erforderlich, dass sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet.

Im Vereinigten Königreich stellt Einkommensbeihilfe (income support) eine Leistung dar, die bestimmten Personengruppen gewährt werden kann, deren Einkommen einen festgesetzten Betrag nicht übersteigt. Schwangere oder Wöchnerinnen können während der Zeit um den Entbindungstermin einen Anspruch auf diese Leistung haben. Jedoch haben „Gebietsfremde“ (also Antragstellerinnen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreich haben) keinen Anspruch auf diese Leistung, es sei denn, sie haben die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Richtlinie über das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt1 erworben.

Der Entscheidung lag der nachfolgende Sachverhalt zugrunde:

Jessy Saint Prix ist französische Staatsangehörige und reiste am 10. Juli 2006 in das Vereinigte Königreich ein. Dort arbeitete sie vom 1. September 2006 bis zum 1. August 2007 hauptsächlich als Hilfslehrerin. Während ihrer Schwangerschaft arbeitete Frau Saint Prix Anfang 2008 als Leiharbeitnehmerin in Kindergärten. Am 12. März 2008, als sie fast im sechsten Monat schwanger war, gab Frau Saint Prix diese Beschäftigung auf, weil die Arbeit mit Kindergartenkindern zu anstrengend für sie geworden war.

Der von Frau Saint Prix gestellte Antrag auf Einkommensbeihilfe wurde von der britischen Verwaltung mit der Begründung abgelehnt, dass Frau Saint Prix die Arbeitnehmereigenschaft verloren habe. Am 21. August 2008, drei Monate nach der Geburt ihres Kindes, nahm Frau Saint Prix ihre Erwerbstätigkeit wieder auf.

Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs), der mit der Frage befasst war, ob Frau Saint Prix ein Anspruch auf Einkommensbeihilfe zustand, hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitssuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt ihres Kindes aufgibt, unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne des Unionsrechts fällt.

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass eine Frau in der Situation von Frau Saint Prix die „Arbeitnehmereigenschaft“ behalten kann.

Zur Begründung führt der Gerichtshof aus, dass ein Unionsbürger, der keine Erwerbstätigkeit mehr ausübt, in besonderen Fällen (vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, unfreiwillige Arbeitslosigkeit oder Berufsausbildung) die Arbeitnehmereigenschaft gleichwohl behalten kann.

Nach Auffassung des Gerichtshofs enthält die Richtlinie über das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt keine abschließende Aufzählung der Umstände, unter denen einem Wanderarbeitnehmer, der sich nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis befindet, dennoch weiterhin die Arbeitnehmereigenschaft zuerkannt werden kann. Jedenfalls kann die Richtlinie, die ausdrücklich die Ausübung des Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern soll, für sich genommen die Tragweite des Begriffs des Arbeitnehmers im Sinne des AEUV nicht einschränken.

Vielmehr ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des AEUV und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht unbedingt vom tatsächlichen Bestehen oder Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses abhängen.

Unter diesen Umständen ist die Tatsache, dass körperliche Belastungen im Spätstadium einer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes eine Frau zwingen, die Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit während des für ihre Erholung erforderlichen Zeitraums aufzugeben, grundsätzlich nicht geeignet, ihr die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne von Art. 45 AEUV abzusprechen.

Der Umstand, dass eine solche Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet nämlich nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet.

Anderenfalls würden Unionsbürgerinnen von der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit abgehalten, weil sie Gefahr liefen, die Arbeitnehmereigenschaft im Aufnahmemitgliedstaat zu verlieren.

Der Gerichtshof stellt fest, dass das nationale Gericht bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden kann, alle konkreten Umstände des Einzelfalls und die für die Dauer des Mutterschaftsurlaubs geltenden nationalen Vorschriften zu berücksichtigen hat.


EuGH, 19.06.2014 - Az: C-507/12

ECLI:EU:C:2014:2007

Quelle: PM des EuGH

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