Solange der Gesetzgeber dazu aber keine differenziertere Regelung trifft, kann eine Verdrängung der Glaubensfreiheit von Lehrkräften nur dann als angemessener Ausgleich der in Rede stehenden Verfassungsgüter in Betracht kommen, wenn wenigstens eine hinreichend konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden belegbar ist. Das gilt zumal vor dem Hintergrund, dass es gerade die Aufgabe namentlich der als „bekenntnisoffen“ bezeichneten Gemeinschaftsschule ist, den Schülerinnen und Schülern Toleranz auch gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen zu vermitteln. Dieses Ideal muss gelebt werden dürfen, auch durch das Tragen von Bekleidung, die mit Religionen in Verbindung gebracht wird, wie neben dem Kopftuch etwa die jüdische Kippa, das Nonnen-Habit oder auch Symbole, wie das sichtbar getragene Kreuz. Allein das Tragen eines islamischen Kopftuchs begründet eine solche hinreichend konkrete Gefahr im Regelfall nicht. Vom Tragen eines islamischen Kopftuchs geht für sich genommen noch kein werbender oder gar missionierender Effekt aus. Auch wenn es von der Mehrheit muslimischer Frauen nicht getragen wird, ist ein islamisches Kopftuch in Deutschland nicht unüblich. Seine bloß visuelle Wahrnehmbarkeit ist in der Schule als Folge individueller Grundrechtswahrnehmung ebenso hinzunehmen, wie auch sonst grundsätzlich kein verfassungsrechtlicher Anspruch darauf besteht, von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben.
d) Diese Auslegungsmaßgaben gelten entsprechend für § 57 Abs. 4 Satz 2 SchulG NW. Mit Rücksicht auf die grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist die Annahme verfehlt, schon das Tragen eines islamischen Kopftuchs oder einer anderen, auf eine Glaubenszugehörigkeit hindeutenden Kopfbedeckung sei schon für sich genommen ein Verhalten, das gemäß § 57 Abs. 4 Satz 2 SchulG NW bei den Schülern oder den Eltern ohne Weiteres den Eindruck hervorrufen könne, dass die Person, die es trägt, gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Art. 3 GG, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftrete. Diese pauschale Schlussfolgerung verbietet sich. Wenn das Tragen des Kopftuchs etwa als Ausdruck einer individuellen Kleidungsentscheidung, von Tradition oder Identität erscheint, oder die Trägerin als Muslimin ausweist, die die Regeln ihres Glaubens, insbesondere das von ihr als verpflichtend verstandene Bedeckungsgebot, strikt beachtet, lässt sich das ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht als Distanzierung von den in § 57 Abs. 4 Satz 2 SchulG NW genannten verfassungsrechtlichen Grundsätzen interpretieren. Auch den Glaubensrichtungen des Islam, die das Tragen des Kopftuchs zur Erfüllung des Bedeckungsgebots verlangen, aber auch genügen lassen, kann nicht unterstellt werden, dass sie von den Gläubigen ein Auftreten gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Art. 3 GG, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung fordern, erwarten oder auch nur erhoffen.
e) Die angegriffenen Entscheidungen der Fachgerichte, namentlich die des Bundesarbeitsgerichts, werden der gebotenen verfassungskonformen einschränkenden Auslegung nicht gerecht. Sie verletzen die Beschwerdeführerinnen daher in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
2. § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, der vom Gesetzgeber als Privilegierungsbestimmung zu Gunsten der Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen gewollt ist, stellt eine gleichheitswidrige Benachteiligung der Angehörigen anderer Religionen aus Gründen des Glaubens und der religiösen Anschauungen dar (Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG).
a) Die Gesamtkonzeption des § 57 Abs. 4 SchulG NW sollte nach den Vorstellungen, die im Gesetzgebungsverfahren hervorgetreten sind, in Satz 3 der Regelung eine Freistellung vom Verbot äußerer religiöser Bekundungen des Satzes 1 und damit eine unmittelbare Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion bewirken. Eine solche Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Werden äußere religiöse Bekundungen durch das pädagogische Personal in der Schule untersagt, so muss dies grundsätzlich unterschiedslos geschehen.
b) Tragfähige Gründe für eine Benachteiligung äußerer religiöser Bekundungen, die sich nicht auf christlich-abendländische Kulturwerte und Traditionen zurückführen lassen, sind nicht erkennbar. Wenn vereinzelt geltend gemacht wird, im Tragen eines islamischen Kopftuchs sei vom objektiven Betrachterhorizont her ein Zeichen für die Befürwortung einer umfassenden auch rechtlichen Ungleichbehandlung von Mann und Frau zu sehen und deshalb stelle es auch die Eignung der Trägerin für pädagogische Berufe infrage, so verbietet sich eine derart pauschale Schlussfolgerung. Ein solcher vermeintlicher Rechtfertigungsgrund muss darüber hinaus schon daran scheitern, dass er bei generalisierender Betrachtung keineswegs für alle nicht-christlich-abendländischen Kulturwerte und Traditionen einen Differenzierungsgrund anbieten kann.
c) Ebenso wenig ergeben sich für eine Bevorzugung christlich und jüdisch verankerter religiöser Bekundungen tragfähige Rechtfertigungsmöglichkeiten. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrages rechtfertigt es nicht, Amtsträger einer bestimmten Religionszugehörigkeit bei der Statuierung von Dienstpflichten zu bevorzugen. Soweit den landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen ein christlicher Bezug des staatlichen Schulwesens entnommen werden kann, soll sich dies auf säkularisierte Werte des Christentums beziehen.
d) Eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, wie sie das Bundesarbeitsgericht seinen Entscheidungen zu Grunde gelegt hat, ist nicht möglich. Das Bundesarbeitsgericht hat unter anderem darauf abgestellt, dass die „Darstellung“ christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte im Sinne des Satzes 3 nicht gleichzusetzen sei mit der „Bekundung“ eines individuellen Bekenntnisses im Sinne des Satzes 1. Zudem bezeichne der Begriff des „Christlichen“ eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt. Eine solche Auslegung überschreitet jedoch die Grenzen verfassungskonformer Norminterpretation und ist mit der richterlichen Gesetzesbindung nicht vereinbar (Art. 20 Abs. 3 GG). Ihr steht der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers entgegen. Dieser Wille hat sich nicht durch die vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens erfolgte Erörterung der Möglichkeit einer einschränkenden Auslegung verändert; diese lässt lediglich erkennen, dass der Landtag sich des verfassungsrechtlichen Risikos bewusst war.
In der vom Bundesarbeitsgericht gewählten Auslegung kommt der Regelung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW allenfalls noch klarstellende Funktion zu. Dessen ungeachtet bleibt bei dieser Auslegung aber eine Norm in Kraft, die bei einem ihrem Wortlaut nach möglichen weiteren Verständnis als Öffnung für eine diskriminierende Verwaltungspraxis verstanden werden könnte und deren diesbezügliche Unschärfe im Gesetzgebungsverfahren bewusst hingenommen wurde. § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, auf dem die angegriffenen Entscheidungen ebenfalls beruhen, ist hiernach für mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG unvereinbar und nichtig zu erklären.
Abweichende Meinung des Richters Schluckebier und der Richterin Hermanns
1. Die vom Senat geforderte einschränkende Auslegung des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Sie misst der Bedeutung des staatlichen Erziehungsauftrags, der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, sowie dem Schutz des elterlichen Erziehungsrechts und der negativen Glaubensfreiheit der Schüler im Verhältnis zur Glaubensfreiheit der Pädagogen zu geringes Gewicht bei. Der Senat beschneidet in nicht akzeptabler Weise den Spielraum des Landesschulgesetzgebers bei der Ausgestaltung des multipolaren Grundrechtsverhältnisses, das gerade die bekenntnisoffene öffentliche Schule besonders kennzeichnet.
a) Der Senat entfernt sich von den Maßgaben und Hinweisen der sogenannten Kopftuch-Entscheidung des Zweiten Senats vom 24. September 2003 (BVerfGE 108, 282), die dem Landesschulgesetzgeber gerade für den Bereich der öffentlichen Schule die Aufgabe zuschreibt, gesetzlich zu regeln, inwieweit er religiöse Bezüge in der Schule zulässt oder wegen eines strikteren Neutralitätsverständnisses aus der Schule heraushält. Die Gestaltungsfreiheit des Landesgesetzgebers schließt die Möglichkeit ein, auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden. Diese Maßgaben, die der Schulgesetzgeber in Nordrhein-Westfalen wie auch in anderen Ländern zum Anlass für eine entsprechende gesetzliche Regelung genommen hat, wären der verfassungsrechtlichen Beurteilung auch im Interesse einer berechenbaren Verfassungsrechtsprechung zugrunde zu legen gewesen.
b) Der Landesschulgesetzgeber kann gute und tragfähige Gründe für sich in Anspruch nehmen, die schon die abstrakte Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität für das in Rede stehende generelle Verbot religiöser Bekundungen auch durch das äußere Erscheinungsbild genügen lassen. Auch eine solche Lösung für die Umsetzung des vom Gesetzgeber verfolgten legitimen Ziels ist als angemessen und zumutbar zu beurteilen.
aa) Die Bewertung des Senats, das Tragen religiös konnotierter Bekleidung durch Pädagoginnen und Pädagogen beeinträchtige die negative Glaubensfreiheit von Schülerinnen und Schülern sowie das Elterngrundrecht nicht, halten wir für nicht realitätsgerecht. Sie vernachlässigt, dass das Schüler-Pädagogen-Verhältnis ein spezifisches Abhängigkeitsverhältnis ist, dem Schüler und Eltern unausweichlich und nicht nur flüchtig ausgesetzt sind. Aufgabe der Lehrpersonen ist es unter anderem, die Schüler zu erziehen und zu beurteilen (§ 57 Abs. 1 SchulG NW). Dies bedingt ein weitaus stärkeres Ausgesetztsein gegenüber religiösen Bekundungen als es bei Begegnungen im gesellschaftlichen Alltag der Fall ist. Den Pädagogen kommt in der Schule im Umgang mit den Schülern zudem eine Vorbildfunktion zu. Deren Verhalten, auch die Befolgung bestimmter religiöser Bekleidungsregeln, trifft auf Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind. Eine wirklich offene Diskussion über die Befolgung religiöser Bekleidungsregeln wird, wenn Lehrpersonen persönlich betroffen sind, in dem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis der Schule allenfalls begrenzt möglich sein. Schließlich kann das Tragen religiös konnotierter Kleidung durch Pädagogen zu Konflikten innerhalb der Schülerschaft und unter den Eltern führen und sie befördern.
bb) Die Pädagogen genießen zwar ihre individuelle Glaubensfreiheit. Zugleich sind sie aber Amtsträger und damit der fördernden Neutralität des Staates auch in religiöser Hinsicht verpflichtet. Denn der Staat kann nicht als anonymes Wesen, sondern nur durch seine Amtsträger und seine Pädagogen handeln. Die Verpflichtung des Staates auf die Neutralität kann deshalb keine andere sein als die einer Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität.
cc) Der Gesetzgeber konnte sich bei seiner Entschließung für ein weitgehend schon vorbeugendes Verbot auch auf die Einschätzung sachkundiger Pädagogen bei den Anhörungen in verschiedenen Landtagen stützen. Die Stellungnahmen verdeutlichen die Bedeutung eines generellen, etwa auch landesweiten und -einheitlichen Verbots religiöser Bekundungen schon bei abstrakter Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität. Zudem liegt auf der Hand, dass mit einer Einschränkung auf eine hinreichend konkrete Gefahr in der Schulpraxis in stärkerem Maße Befund-
erhebungs- und Beweisführungsprobleme erwachsen. Diese sind von der Schulverwaltung notwendig unter Beteiligung der Schüler und Eltern auszutragen und verstärken eine dem Erziehungsauftrag eher abträgliche Personalisierung des etwaigen Konflikts.
dd) Eine Bewertung, die allein darauf abstellt, dass der Staat eine ihm unmittelbar nicht zuzurechnende individuelle Grundrechtsausübung seiner Pädagogen nur dulde und die Schüler lediglich eine bestimmte Bekleidung der Pädagogen anzuschauen hätten, die erkennbar auf deren individuelle Entscheidung zurück gehe, greift zu kurz. Eine solche vereinfachende Differenzierung zwischen dem Staat zurechenbaren Symbolen und individueller religiös konnotierter Bekleidung von Pädagogen blendet die Wirkung aus, die auch die individuelle Grundrechtsausübung einer Lehrperson auf Schüler haben kann.
c) Zusammengefasst ist nach unserem Dafürhalten die Untersagung religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagogen schon bei einer abstrakten Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität verfassungsrechtlich unbedenklich. Mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist einschränkend allerdings zu verlangen, dass es sich um eine religiös konnotierte Kleidung von starker Ausdruckskraft handeln muss. Es steht dem Landesschulgesetzgeber von Verfassungs wegen jedoch auch offen, religiöse Bezüge in weitem Maße zuzulassen, etwa wenn er dies im Interesse einer Erziehung zu Toleranz und Verständnis für angemessen erachtet. Verpflichtet ist er dazu von Verfassungs wegen indessen nicht.
2. Das vom Bundesarbeitsgericht zugrunde gelegte Normverständnis des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, wonach die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags der Schule nach der nordrhein-westfälischen Landesverfassung und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen dem Verhaltensgebot nach Satz 1 nicht widerspricht, wahrt die Grenzen richterlicher Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dem Senat ist darin zuzustimmen, dass ein Verständnis des Satzes 3 von § 57 Abs. 4 SchulG NW im Sinne einer echten Freistellungs- und Privilegierungsklausel zum Bekundungsverbot des Satzes 1 wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot verfassungswidrig wäre. Die vom Bundesarbeitsgericht gefundene Auslegung vermeidet ein solches Ergebnis jedoch. Sie steht mit dem Wortlaut des Gesetzes in Einklang, widerspricht keineswegs dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers und bestimmt auch den normativen Gehalt der Regelung nicht grundlegend neu. Es trifft zwar zu, dass die Gesetzesinitiatoren mit Satz 3 der Vorschrift zunächst die Vorstellung verbanden, anders als das islamische Kopftuch etwa könnten bestimmte traditionelle, im christlichen oder jüdischen Glauben wurzelnde Bekleidungsformen zugelassen werden. Diese Ursprungsvorstellungen haben im weiteren Verlauf des von vielfältigen Einflüssen bestimmten Gesetzgebungsverfahrens jedoch einen Wandel erfahren. Zudem hat der Landtag das Gesetz in Ansehung der einschränkenden Auslegung beschlossen, die das Bundesverwaltungsgericht schon damals zu einer identischen Regelung vorgenommen hatte und der sich das Bundesarbeitsgericht in den angegriffenen Entscheidungen angeschlossen hat.
3. Auch nach unserer Auffassung wäre die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin des Verfahrens 1 BvR 471/10 im Ergebnis für begründet zu erachten gewesen. Die von ihr getragene Bedeckung, eine Wollmütze und ein gleichfarbiger Rollkragenpullover, ist nicht aus sich heraus religiös konnotiert und wird auch im gegebenen Umfeld der Schule nicht ohne Weiteres als religiöse Bekundung von starker Ausdruckskraft deutbar sein. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin des Verfahrens 1 BvR 1181/10 erscheint dagegen nach den vorgenannten Maßstäben unbegründet.
BVerfG, 27.01.2015 - Az: 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10
Quelle: PM des BVerfG
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Dieter Rathke, Frankfurt